Die perfekte Schweiz: Eine kleine Zukunftsgeschichte
Marlène da Silva war nervös. In einer Viertelstunde würde sie vor der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerats ihr App mit dem Namen Perfecto vorstellen dürfen. Gemeinsam mit einem Team aus ehemaligen Studienkolleginnen und -kollegen war ihnen gelungen, was vorher noch niemand geschafft hatte: Persönliche Daten von Bürgerinnen und Bürgern so zu kombinieren, dass ein anonymes Datenprofil entstand, dessen ausgeklügelte Verschlüsselung nur über mehrmalige Verifizierungsschritte für Dritte zugänglich war.
Trotz dieses grösstmöglichen Datenschutzes war die App Perfecto in der Lage, kontinuierlich Daten über die Aktivitäten der Userin oder des Users zu sammeln. Zum Beispiel wenn die Person Twint benutzte oder im Internet surfte. Zusätzlich aber – und das war der Clou! – registrierte sie auch Verhaltensdaten, die von anderen Personen beobachtet und bewertet werden konnten. Marlène war überzeugt, dass solche Datenprofile den Menschen helfen würden, sich respektvoller gegenüber anderen und ihrer Umwelt zu verhalten. Sie wollte nicht tatenlos herumsitzen, während die Überschwemmungen und Waldbrände häufiger wurden und während –
«Frau da Silva, bitteschön, Sie dürfen eintreten.» Abrupt hatte sie die Stimme des Sekretärs aus den Gedanken gerissen. Sie atmete einmal tief ein und aus. Los geht’s. Wenige Minuten später präsentierte sie den Ständeratsmitgliedern der Sicherheitspolitischen Kommission, woran sie und ihr Team in den letzten Monaten fast Tag und Nacht gearbeitet hatten. Ihr Produkt war erst seit 5 Wochen auf dem Markt, hatte aber bereits hohe Wellen geschlagen. Zuerst hatten sie den renommierten Preis der Stiftung für Konsumentenschutz gewonnen, der seit 2028 ethische Standards in der Entwicklung Künstlicher Intelligenz prämierte. Kurz darauf trafen die ersten Hass-Botschaften via Social Media ein und auch die Presse bezichtigte sie der Augenwischerei, ja sogar noch abschätziger, als gewissenlose Wegbereiterin des Schweizer Schnüffelstaats.
Trotz diesem Gegenwind, tönte ihre Stimme nun selbstbewusst durch den holzgetäfelten Raum: «Wie Sie auf dieser Illustration erkennen können, handelt es sich bei dem von uns entwickelten System um eine sehr simple, aber genau deshalb sehr präzise und sichere Methode zur Erstellung von Bürgerprofilen.» Dann erklärte sie den Aufbau Schritt für Schritt. Zuerst die Datensammlung. Die Ständerätinnen und -räte liessen sich von Marlène erläutern, wie ihre App Perfecto es erlaubt, Personen im Umkreis von 25 Metern zu orten und anonym ihr Verhalten zu bewerten: Der Typ auf der anderen Strassenseite hat gerade seine Kippe achtlos weggeworfen? Mit Perfecto gibt es endlich eine adäquate Sanktionsmöglichkeit. Eine Mittfünfzigerin half einem jungen Vater den Kinderwagen in den Zug zu hieven? Perfecto gibt einem die Möglichkeit, solches Verhalten anständig zu verdanken.
Dann die Datenauswertung. Ein Zusammenspiel vieler robuster Algorithmen berechnet, gewichtet, und aktualisiert laufend das aus den Daten entstehende Datenprofil. In einem kleinen wissenschaftlichen Feldexperiment mit 200 Studentinnen und Studenten konnten Marlène und ihr Team beweisen, dass sich typische Schweizer Tugenden wie Sauberkeit, Hilfsbereitschaft und Fleiss innerhalb von 3 Monaten unter den Nutzerinnen und Nutzern deutlich häuften.
Zum Abschluss sagt Marlène da Silva: «Wie gesagt, der Datenschutz ist auf dem absolut neuesten Stand, weshalb ich Ihnen empfehle, meine App flächendeckend in unserem Land einzuführen. Für eine perfekte Schweiz.»
Als Marlène gegen Abend auf dem Sofa liegt, kommt ihr Sohn von der Schule nach Hause. Auf ihre Frage, wie es ihm gehe, entgegnet er sichtlich schlecht gelaunt: «Diese blöden Verhaltensnoten. Ich habe immer noch ungenügend. Aber Hauptsache Anna ist wieder Klassenbeste, diese dumme Kuh. Ihre Noten sind nur so gut, weil sie alle hübsch finden.» Bevor Marlène beschwichtigen kann, verschwindet er wutentbrannt in seinem Zimmer.
Schon ein bisschen unfair, wenn sich Schülerinnen und Schüler gegenseitig bewerten müssen, denkt Marlène. Und auf einmal läuft es ihr kalt den Rücken hinunter. Was, wenn ihre App Perfecto plötzlich der Vetternwirtschaft dient? Wäre das möglich? Eigentlich hatten sie solche Mechanismen rechnerisch ausgeschlossen. Ausserdem sollte es immer möglich sein, schlechtes Verhalten mit gutem zu kompensieren. Was aber würde passieren, wenn die guten Taten niemand wahrnehmen und in der App vermerken würde? Es war schliesslich verboten sich selbst zu bewerten.
Im Hintergrund liefen auf Spotify derweil die letzten Zeilen von Mani Matter’s Klassiker:
«Louf i am Bundeshus sider verby
Mues i gäng dänke, s’steit numen uf Zyt
S′länge fürs z’spränge paar Seck Dynamit.»
«Oder eine App», murmelte Marlène leise vor sich hin.